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Strategist's Corner

Kapital ist wie Cholesterin

Was Cholesterin für die Gesundheit ist, ist Kapital für die Wirtschaft, meint Robert M. Almeida, Portfoliomanager und Global Investment Strategist. Man braucht es, aber zu viel ist schädlich.

AUTOR

Robert M. Almeida
Portfoliomanager und Global Investment Strategist

Im Überblick

  • Was Cholesterin für die Gesundheit ist, ist Kapital für die Wirtschaft: Man braucht es, aber zu viel ist schädlich. Kapitalüberschuss und Kapitalmangel erzeugen Marktzyklen, ausgelöst durch die Entscheidungen von Investoren und Portfoliomanagern. Die Folge sind teils starke Auf- und Abschwünge.
  • Weil seit der internationalen Finanzkrise immer mehr Wert auf gute Finanzzahlen statt auf Ausrüstungsinvestitionen gelegt wurde, waren Margen und Erträge meist hoch. Seit 2022 stehen die Unternehmensgewinne aber unter Druck – vor allem wegen der Neuausrichtung der Lieferketten, der hohen Zinsen und neuer Technologien wie KI. Dadurch ändert sich auch die Kapitalallokation.
  • Vermutlich werden die Einzelwerterträge jetzt wieder stärker streuen. Eine gute Finanz-beratung wird daher wichtiger sein als in den Jahren nach der internationalen Finanzkrise.

Wenn wir älter werden, müssen wir uns mit unserer Gesundheit befassen. Als wir jung waren, war das für viele von uns kein Thema.

Ein gutes Beispiel ist Cholesterin. Früher habe ich mich kaum damit befasst, aber jetzt, in meinen 50ern, mache ich mir darüber so meine Gedanken. Wenn vom Cholesterinspiegel die Rede ist, heißt es meist, er sei „zu hoch“. Aber auch zu wenig Cholesterin kann problematisch sein. Ohne Cholesterin können wir nicht leben. Es ist in unserem Körper allgegenwärtig, wird für den Zellaufbau und die Hormonproduktion benötigt und hat andere wichtige Aufgaben. Da Cholesterin nicht wasserlöslich ist, sind für seinen Transport im Körper Lipoproteine nötig. 

Ganz ähnlich ist es beim Kapital. Kapital ist für die Gesellschaft unendlich wichtig. Es ist in der Wirtschaft stets im Fluss und braucht ebenfalls ein Transportvehikel. Zu viel Kapital kann für die Finanzmärkte ebenso ungesund sein wie zu wenig.

Wir erlebten das in den 2000ern, als zu viel Kapital in den Bau zu vieler Häuser floss – mit der Folge zu vieler Problemkredite und übermäßiger Risiken in den Büchern der Banken. Ihre Finanzen und Erträge gerieten unter Druck. Im Jahrzehnt davor führte zu viel Kapital zu übertriebenen Investitionen in Hardware. Es bildete sich die größte Aktienmarktblase in der amerikanischen Geschichte.

Weil Kapital die Tendenz zum Gleichgewicht oft fehlt, gibt es immer wieder Markt- und Konjunkturzyklen. Transportvehikel des Kapitals sind die Entscheidungen der Anleger. Sie ziehen Kapital aus ertragsschwachen Projekten ab, um bessere zu finanzieren. Der Kapitalismus ist zwar das effizienteste System der Kapitalallokation, führt aber oft zu Übertreibungen, in der Wirtschaft wie an den Märkten. Da nicht jeder Marktteilnehmer alle Investitionsentscheidungen kennt, sind Über- und Unterinvestitionen oft nicht sofort sichtbar. Irgendwann zeigen sie sich dann aber deutlich, in Form starker Auf- oder Abschwünge. Und weiter geht’s.

So wie wir regelmäßig unsere Blutwerte überprüfen lassen sollten, müssen wir als Investoren regelmäßig prüfen, ob in der Wirtschaft und an den Märkten zu viel oder zu wenig Kapital unterwegs ist. Also dann …

Der Kapitalzyklus nach 2008 

In den wachstums- und ertragsschwachen Jahren nach der internationalen Finanzkrise konnten Industrieländerunternehmen die Globalisierung nutzen, um ihre Kapitalintensität zu verringern. Sie verlagerten Teile der Produktion in die Emerging Markets und brauchten dadurch nicht nur weniger Sachkapital, sondern – ein weiterer Vorteil – auch weniger Arbeitskräfte. Die Unternehmen sparten also Kosten für die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit.

Zugleich konnten die Unternehmen wegen der von den Notenbanken künstlich niedrig gehaltenen Zinsen Schulden aufnehmen und durch höhere Dividenden und Aktienrückkäufe Kapital an ihre Aktionäre ausschütten.

Investitionen und Wachstum stagnierten zwar, aber das Kapital floss weiter. Statt es in physische Güter und Maschinen zu investieren, etwa in Immobilien wie in den 2000ern oder Hardware wie in den 1990ern, nutzte man es jetzt zur Verbesserung der Finanzzahlen. Übertriebene Gewinnmargen und Kapitalrenditen waren die Folge. 

Was ist jetzt anders?

Seit 2022 geht der Kapitalzyklus allmählich zu Ende. Wir rechnen mit Auswirkungen auf die Unter-nehmenserträge und irgendwann auch auf die Finanzmärkte. In drei Punkten zusammengefasst: 

  1. Bei länderübergreifender Fertigung legte man früher mehr Wert auf Effizienz und Gewinn-maximierung als auf Krisenstabilität. Doch Corona, die Kriege in Europa und im Nahen Osten sowie die US-Zollpolitik führten zu einem Umdenken. Unternehmen investieren mehr und mehr in die Neuausrichtung ihrer Lieferketten, um näher am Firmensitz oder am Kunden zu produzieren. Solche Veränderungen sind zwar nötig, kosten aber Geld. Wenn Unternehmen aufgrund von Substitutionsprodukten ihre Preise nicht erhöhen können, geraten die Gewinne unter Druck.
  2. Noch wissen wir nicht, wie hoch die Zinsen sein werden, wenn das Wachstum wegen der höheren Investitionen und Arbeitskosten wieder steigt. Eine Rückkehr zu den Allzeittiefs des letzten Konjunkturzyklus dürfte aber sehr unwahrscheinlich sein, allein schon wegen des hohen Haushaltsdefizits der USA. Zwar sind die Zinsdeckungsgrade vieler S&P-500-Unternehmen zurzeit hoch, doch muss ein Großteil des nach der internationalen Finanzkrise aufgenommenen Fremdkapitals bald zu deutlich höheren Zinsen refinanziert werden. Dann steigt der Schulden-dienst. Auch hier gilt, dass die Gewinne der Unternehmen unter Druck geraten – es sei denn, sie können wegen fehlender Substitutionsprodukte ihre Preise erhöhen.
  3. Und dann ist da noch die Künstliche Intelligenz. Viel wissen wir noch nicht über ihre künftigen Auswirkungen. Die Geschichte zeigt aber, dass neue Technologien oft Knappheiten beseitigen. Wer aufgrund solcher Knappheiten bislang gut verdient hat, muss erleben, dass sein Angebot zu einem Standardprodukt wird. Die Preise müssen gesenkt werden, die Gewinne fallen. Das Internet hat den Konsumgütermarkt verändert – durch mehr Wahlmöglichkeiten, größere Bequemlichkeit und niedrigere Preise. KI kann Verbraucher mündiger machen. Große Sprachmodelle können die Macht der Werbung mindern, weil sie die Produktbewertungen aller Käufer vergleichen können. Sie können Produkte finden, die vor allem den Verbrauchern nützen, und nicht dem Hersteller, der sie geschickt bewirbt. Wer mittelmäßige Produkte anbietet und bisher durch gute Werbung vor der Konkurrenz geschützt war, könnte jetzt Probleme bekommen. Bessere Produkte gewinnen Marktanteile. Die Gewinne von Unternehmen, die ihre Preise nicht anheben können, geraten unter Druck.

Fazit

Die Welt ist in den letzten Jahren eine andere geworden. Eine der am häufigsten übersehenen Veränderungen ist, dass Unternehmen ihr Kapital jetzt anders nutzen. Wie beim Cholesterin konnten wir es uns früher vielleicht leisten, nicht darauf zu achten. Aber jetzt, wo der Markt-zyklus in die Jahre kommt, könnte das unklug sein.

Am Ende werden die Wertpapierkurse die Unternehmenserträge abbilden und nicht die Schlagzeilen. Die Einzelwerterträge dürften dann wesentlich stärker streuen als in den letzten Jahren. Deshalb, so glauben wir, wird Finanzberatung bald sehr viel wichtiger sein als in den Jahren nach 2008.

 

Die hier dargestellten Meinungen sind die des Autors/der Autoren und können sich jederzeit ändern. Sie dienen ausschließlich Informationszwecken und dürfen nicht als Empfehlung zum Kauf von Wertpapieren, Aufforderung oder als Anlageberatung verstanden werden. Prognosen sind keine Garantien. Die Wertentwicklung der Vergangenheit ist keine Garantie für künftige Ergebnisse.

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